Der unfreie Wille 

Der Sündenfall, obwohl die größte Katastrophe, war kein überraschender Unfall, auf den Gott mit dem Angebot der Erlösung reagiert hat, sondern war ein Ereignis, das Gott kommen sah. Die Gläubigen waren vor Grundlegung der Welt schon erwählt, Eph. 1:4: ... wie er uns denn erwählt hat durch denselben, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir sollten sein heilig und unsträflich vor ihm in der Liebe. Ihre Namen waren bekannt und wurden in ein Buch geschrieben, Off. 17:8: ... und es werden sich verwundern, die auf Erden wohnen, deren Namen nicht geschrieben stehen in dem Buch des Lebens von Anfang der Welt ... Die Erlösung der Gläubigen war also von Anfang an geplant. Gott wusste, dass es zum Sündenfall kommen würde; vielleicht war es sogar unausweichlich.

Die Erdenzeit mit allen Einzelheiten ist Gott minutiös bekannt, alle Ereignisse zu allen Zeiten weiß Gott im Voraus. Er lässt viele Dinge haargenau von den Propheten vorhersagen. Daran kann man erkennen, dass diese Erdenerfahrung einem genau geplanten Zweck dient. Der Zweck ist sicherlich nicht Glück und Wohlleben. Der Zweck muss auf das Jüngste Gericht und die Ewigkeit danach zielen.

Diese Welt ist in gewisser Weise das Territorium des Teufels. Allerdings wurden dem Teufel für seine Herrschaft genaue Vorgaben gemacht, siehe Joh. 12:31 oder auch Luk. 4:6, wo der Teufel zu Jesus sagt: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, welchem ich will. Obwohl es also für die Menschen so aussieht, als ob der Teufel sehr viel Macht hat und raffiniert und sehr klug ist, liegen die Verhältnisse in Wahrheit anders: Gott allein macht alle Vorgaben, er allein weiß alles; seine Größe, Macht und Weisheit sind nicht zu erfassen, siehe Jes. 40:28: Weißt du nicht? hast du nicht gehört? Der HErr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich. Oder Psalm 145:3: Der HErr ist groß und sehr löblich, und seine Größe ist unausforschlich. Nicht so der Teufel: Er hat nur begrenzte Einsicht. Als er stolz wurde und sich überlegte, nach höherer Macht zu greifen, hat er nicht damit gerechnet, dass Gott ihn auf alle Ewigkeit in die Hölle verdammen würde. Trotz seiner Klugheit kannte er Gottes Wesen nur unvollständig und hat sich offensichtlich ganz, ganz übel verkalkuliert und die größte Torheit begangen, die nur möglich ist. Ja, niemand in der unsichtbaren Welt kennt bisher Gottes Wesen ganz, vgl. Eph. 3:10: ... auf dass jetzt kund würde den Fürstentümern und Herrschaften in dem Himmel an der Gemeinde die mannigfaltige Weisheit Gottes. Noch immer gilt: Gott hat die Engel als seine Diener erschaffen; und sie bleiben seine Diener. Der Teufel tut zwar Böses, aber absolut alles muss Gottes Zielen dienstbar sein.

Als Illustration kann man sich folgende Szene denken (nach Erwin Lutzer): Ein reicher Adeliger besitzt einen großen Garten mit kostbaren Bäumen, den er überaus schätzt. Er hat einen Verwalter, der sich als böse erweist und den der Adelige darum entlässt. Der entlassene Verwalter will sich an seinem früheren Dienstherrn rächen. Er weiß, dass der Adelige seinen Garten liebt. Der entlassene Verwalter schleicht sich nachts in den Garten und fällt wahllos sehr viele der kostbaren Bäume. Ihm ist klar, dass er mit dieser Schandtat nicht entkommen kann und bestraft werden wird. Aber das ist ihm egal; er findet seine Genugtuung daran, dass er wenigstens ein einziges Mal dem verhassten, übermächtigen Adeligen ernsthaft schmerzlichen Schaden tun konnte. Am nächsten Morgen besucht der Adelige seinen Garten und sieht die gefällten Bäume. Er ruft seine Architekten, Planer und Buchhalter mit all ihren Zeichnungen und Unterlagen und lässt sich zeigen, dass haargenau die Bäume, die der nächtliche Besucher in böser Absicht gefällt hatte, laut Eintragungen in den Plänen tatsächlich hatten gefällt werden sollen, damit zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort und mit diesen Bäumen ein lange konzipierter, kunstvoller Bau entsteht. Der Täter wird noch am selben Morgen gefasst. Der Adelige sagt, dem Bösewicht sei zu danken für die Arbeit, die er erledigt hat. Dann sei er seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Wenn alles, was Gott geschaffen hat, seinem Willen dienstbar sein muss, auch dann, wenn die betroffene Kreatur es selbst nicht merkt, dann wird das Konzept eines freien Willens zur Illusion. Die Vorstellung aber, dass der menschliche Wille nicht frei sei, überfordert viele Menschen. Schließlich verlangt Gott, dass wir ihn mit ganzem Herzen lieben oder dass wir das Gute wählen sollen. Wenn unser Wille nicht frei ist, warum dann solche Aufforderungen, warum dann Gottes Strafe für die, die ihm nicht gehorchen? Luther trifft in diesem Kontext eine Unterscheidung, die hilfreich ist: Er sagt, dass es einen geoffenbarten Willen Gottes gibt, der z. B. lautet: Tut Buße, damit ihr selig werdet! Und Luther sagt, dass es einen verborgenen Willen Gottes gibt, der verantwortlich ist, dass manches Menschen Herz verstockt ist, sodass Christus vorhersieht, Matth. 25:41: Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Der verborgene Wille Gottes wird z. B. angezeigt in Joh. 6:44: Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, dass ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tage.

Paulus und die anderen Apostel mühten sich unter Einsatz ihres Lebens, das Evangelium zu predigen, um Menschen zu retten. Sie missdeuteten die Tatsache des unfreien Willens nicht so, dass sie darum faul gewesen wären, denn selig werden könne ja nur, wen Gott zieht, es ist ja schließlich alles vorherbestimmt. Nein, die Apostel kämpften, als hinge alles nur von ihrer Mühe ab. Daraus kann man lernen, was auch Luther erkannt hat: Man muss nach dem geoffenbarten Willen Gottes leben, also mit aller Kraft seine eigene Seligkeit suchen (... schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern ..., Phil. 2:12:13) und das Evangelium predigen zur Zeit oder Unzeit (Predige das Wort ... es sei zu rechter Zeit oder zur Unzeit ..., 2. Tim. 4:2), beten ohne Unterlass (... betet ohne Unterlass ..., 1. Thess. 5:16) etc. Den verborgenen Willen Gottes aber, sagt Luther, muss man in Ruhe lassen.

In Röm. 8:29 (Denn welche er zuvor ersehen hat, die hat er auch verordnet, dass sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes ...) ist angedeutet, dass Gott vorhergesehen hat, wer ihn lieben würde. Das „zuvor ersehen“ heißt eigentlich „vorher wissen“ (gr. προγινώσκω = proginosko). So hätte Gott dann die, von denen er vorher gewusst hat, dass sie ihn lieben würden, erwählt und dazu vorherbestimmt, dass sie dem Ebenbilde seines Sohnes gleich werden sollen. Bei dieser Sichtweise bliebe das Konzept eines freien Willens in gewisser Weise intakt.

Obwohl man ihnen vorschlägt, sie sollten sich doch entspannen, wenn doch ihre Erlösung von Ewigkeit her bestimmt ist, werden die Kinder Gottes alle Kraft und Mühe aufbringen, ihre Seligkeit fest zu machen. Sie werden sich an Gottes Gebote halten, in immerwährendem Gebet und Fasten die Gemeinschaft mit Gott suchen, Leiden nicht scheuen und gerne den Spott dulden, sie wären fanatisch, ungebildet und um allen Spaß im Leben betrogen. Diese Erwählten bleiben trotz allem auf ihrem schmalen Weg. Das Wort Gottes und der heilige Geist, der in ihnen lebt, versichert ihnen, dass sie sich auf dem einzig möglichen Weg zur ewigen Seligkeit befinden.

Der nächste Abschnitt handelt von Himmel und Hölle.